Die 400 Meter sind die vielleicht härteste Laufdisziplin in der Leichtathletik. Während die Geschwindigkeiten noch im Dunstkreis des Kurzsprints liegen, werden die Athleten spätestens beim Einbiegen auf die Zielgerade mit einer massiven Übersäuerung der Muskulatur konfrontiert – Stehvermögen und Leidensfähigkeit sind dann Trumpf. Einer, der zunehmend das gesamte Blatt ausspielen kann und in der zurückliegenden Saison den Durchbruch in die nationale U20-Spitze geschafft hat, ist Bastian Sundermann.
Es ist der 11. Juni dieses Jahres, als Bastian Sundermann in Wetzlar nach einem hastigen Warmup seinen Platz hinterm Startblock einnimmt. Vergessen sind zu diesem Zeitpunkt die großen Anreiseprobleme, die volle Konzentration gilt der Rundbahn. „Ich werde aufgerufen und dann bin ich im Tunnel. Ich weiß, wie ich laufen muss und bin bereit, ans Limit zu gehen“, durchlebt Bastian noch einmal die Momente vor dem Start. Als im Ziel die Anzeigetafel 48,06 Sekunden zeigt, ist der 18-Jährige verblüfft. Angetrieben von seinen Teamkameraden Silyan Peshev und Gabriel Wusu, hat er seine bisherige persönliche Bestleistung um mehr als eine Sekunde unterboten, im Vergleich zur Vorjahres-Saison sogar um zwei Sekunden. Bastian schiebt sich in seinem ersten U20-Jahr auf den zwischenzeitlichen fünften Rang der deutschen Bestenliste. „Für mich waren die 400 Meter in Wetzlar die Bestätigung, dass noch viel mehr geht, als wir bis dahin zeigen konnten“, ordnet er die Bedeutung des Rennens ein.
Trainer Jan Vogt begeistert „Zufallsfund“ mit eigenem Trainingskonzept
„Wir“, das sind Bastian Sundermann und sein Trainer Jan Vogt. Bastians Aufstieg zum Top-Athleten ist eng verbunden mit dem außergewöhnlichen Engagement Vogts, der bei der LG Brillux selbst im Kurz- und Langsprint unterwegs war und unter anderem persönliche Bestzeiten von 22,19 Sekunden über die 200 Meter und 49,56 Sekunden über die 400 Meter erzielt hat. Als Vogt zum Ende der Saison 2019 seine aktive Karriere beendete und nahtlos ins Trainerteam der LG wechselte, probierte sich Bastian Sundermann im U16-Bereich auf den Sprintstrecken aus – ein ehrgeiziger, vielseitiger Sportler, der allerdings in seiner breitensportlich orientierten Trainingsgruppe limitierte Entwicklungsmöglichkeiten vorfand. „Bastis Karriere war nicht von Anfang an vorbestimmt, in gewisser Weise war er ein Zufallsfund“, blickt Jan Vogt auf die Anfänge der Zusammenarbeit zurück. Vogt entwickelte und erprobte zum damaligen Zeitpunkt im Rahmen seiner Masterarbeit ein eigenes wissensbasiertes Trainingskonzept, Bastian Sundermann ließ sich dafür begeistern.
Schnell erkannte der Trainer das Potenzial seines Schützlings: „Basti ist vom biologischen Alter weiter entwickelt als vom kalendarischen – man kann ihn bereits in den Jugendklassen sehr gut trainieren und Reize setzen, die bei anderen Athleten dieses Alters noch nicht möglich wären. Außerdem eignet er sich neue Bewegungsmuster schnell an und schafft es, Grundlagenarbeit auf die Zielbelastung hin zu kanalisieren.“ Auf das Experiment 400 Meter ließ sich Bastian bereitwillig ein, war doch offensichtlich, dass er seine Qualitäten im Kurzsprint erst in den Schlussabschnitten ausspielen kann: Während für die reinen Sprinter die Zielgerade eines 200 Meter-Rennens sehr lang werden kann, trommelt Bastian eine konstante Geschwindigkeit auf die Tartanbahn. „Ich vergleich Basti gerne mit einem Diesel: Er ist nicht schnell in der Beschleunigung, aber wenn er einmal läuft, dann läuft er auch“, charakterisiert Jan Vogt seinen Schützling. Das Experiment viel auf fruchtbaren Boden, bereits im ersten U18-Jahr gelang die Qualifikation für die deutschen Jugendmeisterschaften.
„Jeder wünscht dem anderen nur das Beste“ – Erfolgsfaktor Trainingsgruppe
Zwei Jahre ist Bastian ein kompletter Sprinter, der von 60 bis 400 Meter alle Strecken läuft. Zur brettharten Stadionrunde hat er eine besonders innige Beziehung entwickelt und kostet ihre bittersüßen Facetten aus: „Die 400 Meter läuft man am Limit und ist im Ziel physisch am Ende, bei einer passablen Zeit aber auch sehr zufrieden. Zugleich weiß man, dass immer noch ein Quäntchen mehr geht und es wird zu einer Sucht, die Grenzen weiter zu verschieben. Genau das ist einer der Gründe, warum ich diesen Sport betreibe: Ich möchte meine Grenzen maximal ausreizen.“ Bedingung dafür ist eine stabile Physis. Nachdem sich Verletzungsprobleme wie ein roter Faden durch die Saisonvorbereitungen im U16- und U18-Bereich zogen, kehrte zuletzt Ruhe ein – zielgerichtetes Krafttraining und Physiotherapie, aber auch der Verzicht auf die zwei sportliche Passion Fußball ermöglichten einen kontinuierlichen Aufbau fürs erste U20-Jahr.
Zum Erfolgs-Fundament zählen aber auch die Trainingsgruppe und das private Umfeld. Obwohl Leichtathlet*innen bei den großen Meisterschaften weitestgehend als Individualist*innen um Medaillen kämpfen und der Weg an die Spitze immer auch einsam ist, bauen die meisten auf die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten und das Verständnis von Familie und Freunden, Schule und Arbeitgebern. Bastian kann sich auf all das verlassen. Im Training sind es insbesondere die Disziplinkollegen Silyan Peshev und Gabriel Wusu, die mit Bestzeiten von unter 49 Sekunden eine kompetitive und zugleich kameradschaftliche Atmosphäre schaffen. „Die drei können sich gegenseitig pushen und genau die Prozente herauskitzeln, die man für eine stetige Verbesserung braucht. Insgesamt ist Basti von Athlet*innen umgeben, die einen gewissen Hunger auf Erfolge verspüren und das tut ihm gut“, schwärmt Jan Vogt von der äußerst leistungsstarken Sprint-Trainingsgruppe, zu der im Kurzsprint etwa die von Lars Goldbeck trainierten Asse Markus Greufe und Jakob Bruns oder das langjährige LG-Aushängeschild Kai Sparenberg (Trainer: Peter Seiffert) zählen. Auch die kollegiale Zusammenarbeit der Sprint-Trainer hebt Vogt als außergewöhnlich hervor. Bastian Sundermann selbst schätzt sich mit seiner Trainingsgruppe „unfassbar glücklich“, das Miteinander mit seinen beiden wichtigsten Trainingspartnern beschreibt er so: „Jeder wünscht dem anderen nur das Beste. Zwar strebt man immer nach dem Sieg, aber alle stehen zusammen und treiben sich an.“
Von der Mutter an die Leichtathletik herangeführt
Zusammenstehen, dieses Stichwort gilt auch für Bastians Privatleben: Familie und Freunde zeigen großes Verständnis für seinen Ambitionen, die während der Saison die Urlaubsplanung bestimmen oder Partys für Bastian enden lassen, bevor sie richtig in Schwung kommen. „Mein Umfeld weiß, mit welchem Ehrgeiz ich meinen Sport betreibe, und unterstützt mich. Was mich selbst betrifft, so ist ein Leben nach leistungssportlichen Grundsätzen natürlich mit Entbehrungen verbunden, aber man lernt damit umzugehen. Auch meiner Mutter möchte ich danken, sie ist ein großer Rückhalt für mich und hat mich im Übrigen überhaupt erst an die Leichtathletik herangeführt.“ Eine Widmung schickt Bastian auch in Richtung seines Arbeitgebers: Das Jobben als Servicekraft bei einer Münsteraner Weinbar habe ihm geholfen, die Angst vor dem exponierten Auftritt zu überwinden; wenn er jetzt bei großen Wettkämpfen im Rampenlicht steht, bleibt er zunehmend gelassen und selbstbewusst. Das ist wichtig, um die mentalen Ressourcen ganz auf die Performance zu kanalisieren und gleichzeitig in Richtung der Konkurrenz Stärke auszustrahlen.
Nationalmannschafts-Premiere im Münchner Olympiastadion
So ist es unterm Strich eine Kombination verschiedener Bausteine, die sich 2022 zu einem veritablen Leistungssprung zusammenfügten. Hochwertige persönliche Bestleistungen über 100 Meter (11,01 Sekunden), 200 Meter (21,97 Sekunden) und 400 Meter (48,03 Sekunden) wurden flankiert von erfolgreichen Meisterschafts-Resultaten: Hallen-DM-Silber als Teil der 4×200 Meter-Männer-Staffel, ein 6. Platz sechs bei den deutschen Jugendmeisterschaften in Ulm und der Triumph beim U20-Länderkampf am Rande der Aktiven-EM in München sprechen für sich. Besonders war das Gefühl, im imposanten Olympiastadion erstmals das Nationaltrikot überzustreifen.
Indes ist der hochambitionierte Athlet nicht vollends zufrieden mit seiner Saison: „Unabhängig von den Zeiten fühlten sich manche Rennen nicht ganz rund an. Das kann man sich nicht immer leisten, teilweise entscheiden Nuancen für oder gegen dich und “, spielt er etwa auf das hauchdünn verpasste Staffel-Ticket für die U20-WM in Cali an. Zugleich ist er Realist genug um zu wissen, dass im dritten Jahr ernsthaft betriebenen Leistungssports noch Reserven schlummern. Das unterstreicht auch Trainer Jan Vogt: „Das Training zündet, aber wir haben noch lange nicht alles ausgereizt – wie denn auch, der Junge ist 18 Jahr alt, da stehen etwa noch keine Trainingsmittel mit höchster Intensität auf dem Programm. Die 400 Meter sind im Übrigen eine von Taktik geprägte Strecke und die ideale Renneinteilung gelingt umso besser, je erfahrener man ist.“
Saison 2023: Traum vom Start bei der U20-EM in Rumänien
Mit einer gesunden Mischung aus Selbstbewusstsein und Erfolgshunger einerseits, Respekt und Besonnenheit anderseits hat das Duo die Vorbereitung auf die Saison 2023 begonnen. Die Ziele sind abgesteckt: Bastian, der unlängst vom Deutschen Leichtathletik-Verband in den U20-Nationalkader berufen wurde, möchte weiterhin Präsenz in der nationalen Spitze zeigen und die 48-Sekunden-Schallmauer knacken. Sein großer Traum ist ein Start bei der U20-EM in Rumänien – als Teil der Staffel, möglicherweise sogar als Einzelstarter. „Wir müssen uns nicht verstecken“, zeigt sich Trainer Jan Vogt optimistisch. Der Appetit auf weitere Glanzleistungen, er ist groß.
Quelle / Text / Foto: LG Brillux