Helga Leineweber ist promovierte Sportwissenschaftlerin und hält an der Uni Münster eine Juniorprofessur für Bildung und Kultur im Sport. Leineweber forscht u.a. zur professionellen Entwicklung von Sportlehrkräften und zu heterogenen Lerngruppen im Sport. Im Gespräch mit Münster aktiv erklärt sie, was sich hinter dem großen Schlagwort von Inklusion im Sport verbirgt und warum Events wie die Special Olympics ein Gewinn für alle Menschen -egal ob mit oder ohne Beeinträchtigung – sind.

 

Vom 17. bis 25. Juni 2023 finden die Special Olympics World Games in Berlin statt. Die Spiele gelten als weltweit größte inklusive Sportveranstaltung – was genau sind denn die World Games?

Die Special Olympics muten auf den ersten Blick an wie Olympische bzw. Paralympische Spiele. Anders als bei den Paralympics für Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung, gehen bei den Special Olympics allerdings Menschen mit geistiger Beeinträchtigung an den Start. Bei den Special Olympics steht außerdem nicht so sehr der Überbietungsgedanke im Vordergrund, sondern in erster Linie das Dabeisein, die Freude am gemeinsamen Sport und sein Bestes zu geben.

Münster ist – neben 200 anderen deutschen Städten – sog. Host Town für die Spiele. Was verbirgt sich dahinter?

Über das Host Town Projekt können sich die Athletinnen und Athleten schon vor Start der World Games in Deutschland akklimatisieren. Hier in Münster ist vom 12. bis zum 15. Juni die niederländische Delegation zu Gast. In dieser Zeit gibt es ein umfassendes Rahmenprogramm, an dem unter anderem auch Studierende vom Institut für Sportwissenschaft beteiligt sind. Anschließend geht es für die Athletinnen und Athleten dann weiter nach Berlin, zu den Special Olympics World Games.

Im Zusammenhang mit den Special Olympics ist immer wieder die Rede von Inklusion, von inklusivem Sport. Was ist überhaupt Inklusion im Sport?

Inklusion bedeutet, dass alle Menschen, alle Sportlerinnen und Sportler, im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten an etwas teilnehmen können. Das bedeutet also, dass sich das System so an die einzelnen Menschen anpasst, dass alle mitmachen können und nicht umgekehrt erwartet wird, dass sich die Menschen so verändern, dass sie an bestimmten Dingen mitwirken können. Es geht also im Grunde um die Frage: Wie kann ich den Sport so verändern, dass Teilhabe für alle möglich wird? Inklusion bedeutet nicht, separate Angebote zu schaffen, sondernsolche, an denen alle Menschen teilnehmen können.

Ist denn dann ein Event wie die Special Olympics streng genommen überhaupt inklusiv? Schließlich gehen dort ja ausschließlich Menschen mit geistiger Beeinträchtigung an den Start.

Das stimmt. Noch inklusiver sind die sogenannten Unified-Angebote, also Sportevents, bei denen Menschen mit und ohne geistige Behinderung gemeinsam Sport treiben. Solche Unified-Events finden zum Beispiel im Rahmen der Landesspiele der Special Olympics statt. Genau wie die Paralympics, sind auch die Special Olympics am Ende immer noch separierte Veranstaltungen. Es ist aber absolut zu begrüßen, dass es diese Events überhaupt gibt. Inklusiv wird die Veranstaltung dadurch, dass es eben auch viele Möglichkeitender Begegnung, des Austausches gibt. So kann auf allen Seiten Verständnis dafür wachsen, wie unterschiedliche Personen ihren Sport sehen.

Warum sind Veranstaltungen wie die Special Olympics so wichtig? Oder platt gefragt: Warum lohnt sich der Besuch auch für Menschen ohne geistige Beeinträchtigung?

Zum einen haben wir gesellschaftlich immer noch die Schwierigkeit, dass bestimmte Personengruppen schlicht nicht sichtbar sind, beziehungsweise sie in eine Ecke gedrängt werden, die ihnen überhaupt nicht gerecht wird. Das betrifft Menschen mit geistiger Behinderung in besonders großem Maß, sie werden häufig als „nicht fähig“ abgestempelt. Ich glaube, bei Veranstaltungen wie den Special Olympics gibt es für uns alle eine Menge zu lernen, über ganz fantastische Fähigkeiten, die die Athletinnen und Athleten mitbringen. Zum einen sind natürlich sehr gute sportliche Leistungen zu erwarten, zum anderen kann es aber absolut mitreißend sein, zu erleben, mit welcher Begeisterung die Teilnehmenden ihren Sport ausüben. Davon kann man wunderbar lernen, wie sehr man sich auch über einen zweiten, dritten, oder vielleicht fünften Platz freuen kann. Events wie die Special Olympics schaffen es also, ganz neue Blickwinkel Standpunkte einzunehmen, sozusagen durch eine andere Brille auf Sport und Erfolg im Sport zu schauen. Ganz zentral ist außerdemdas Thema Begegnung. Durch Begegnungen wächst das Verständnis dafür, dass auch Menschen mit geistiger Beeinträchtigung eine unheimliche Bereicherung für unsere Gesellschaft sind.

Veranstaltungen wie die Special Olympics sind tolle, große Events. Aber wie wird Inklusion auf einer ganz alltäglichen Ebene möglich, zum Beispiel im Sportunterricht?

Inklusion im Schulsport ist ein ganz großes Thema. Seit Inkrafttreten der UN Behindertenrechtskonvention gibt es den verbrieften Anspruch darauf, dass alle Schülerinnen und Schüler am Sportunterricht in der Schule teilnehmen dürfen. Und zwar auch an Regelschulen; Eltern und Kinder haben das Anrecht, selbst zu wählen, welche Schulform für sie die beste ist. Das muss für Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigung eben nicht automatisch eine Förderschule sein. Daher haben sich auch viele der sogenannten Regelschulen mittlerweile Gedanken gemacht und Konzepte entwickelt, wie Teilhabe für Kinder mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten möglich wird, wie sie Teil der Schulgemeinschaft werden können. In dem Zusammenhang plädiere ich sehr dafür, den Inklusionsbegriff nicht zu eng zu fassen und nur auf Förderbedarfe zu reduzieren, sondern unterschiedliche Bereiche von Heterogenität in den Blick zu nehmen.

Inklusion bedeutet dann also nicht nur, Zugang und Teilhabe für Schüler*innen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung zu schaffen?

Genau. Hürden gibt es zum Beispiel auch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte. Aktuell zum Beispiel für die Schülerinnen und Schüler, die aus der Ukraine nach Deutschland geflohen sind und noch kein Deutsch sprechen. Auch die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Milieus kann sich auf den Zugang zum Sport auswirken: Zum Beispiel, wenn schlicht kein Geld für die passende Ausrüstung da ist oder der Beitrag zum Sportverein zu teuer ist. Für diese Fälle gibt es zwar verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten, die sind in den Familien aber oft gar nicht bekannt.

Und wie lässt sich Inklusion dann konkret im Unterricht erreichen?

Es gibt mittlerweile viele verschiedene Konzepte dafür, wie Inklusion im Schulsport gelingen kann, Konzepte, die den Lehrkräften aufzeigen, an welchen Stellschrauben sie in der Unterrichtsgestaltung drehen können. Das kann zum Beispiel die Veränderung von Regelwerken sein oder Differenzierung im Leistungsniveau. Ein klassisches Beispiel ist das Thema Fußball im Sportunterricht: Wenn einige Schüler und Schülerinnen vielleicht schon im Verein spielen, bringen sie natürlich ganz andere Voraussetzungen mit als Kinder, die erst wenig Erfahrung und vielleicht auch wenig Lust haben. Dann geht es darum, Spielformen zu entwickeln, die es für möglichst viele Schülerinnen und Schüler ermöglichen, teilzuhaben und mit Freude teilzunehmen. Solche Konzepte rund ums Thema Inklusion sind übrigens auch essentieller Baustein im Lehrplan für unsere Studierenden hier am Institut für Sportwissenschaft.

Sie selbst haben zum Thema sprachsensibler Sportunterricht geforscht. Hat Sprache auch mit Inklusion zu tun?

Absolut. Sprache ist das Instrument, mit dem wir Bildung und damit auch hohe Bildungsabschlüsse erlangen können. In Deutschland – noch mehr als in anderen Ländern – gibt es eine riesige Spanne zwischen Schülerinnen und Schülern, die ein sprachlich extrem limitiertes Umfeld erfahren, und solchen, die sprachlich viel versierter sind. Diese starken Unterschiede zeigen sich schon in der Grundschule und wachsen dann mit jeder Jahrgangsstufe weiter. Hier kann gerade der Sport dazu beitragen, sukzessive so etwas wie Bildungssprache anzubahnen.

Würde man das nicht viel eher vom Deutschunterricht erwarten?

Der Sport bringt den großen Vorteil mit, dass im praktischen Tun die Hemmschwelle, sich sprachlich mitzuteilen, viel niedriger ist, als wenn es zum Beispiel im Deutschunterricht darum geht, ein Gedicht zu interpretieren. In der sportlichen Praxis ergeben sich viele Gesprächs- und Diskussionsanlässe, vielleicht auch Konflikte, die im Spiel gelöst, Regeln, die ausgehandelt werden müssen. So bietet sich immer auch Gelegenheit, die Schülerinnen und Schüler bildungssprachlich anzuregen. Und manchmal werden im Sport eben auch gar keine Worte gebraucht, so dass Menschen trotz sprachlicher Schwierigkeiten gleichberechtigt mitmachenkönnen. Das ist gerade in Sachen Inklusion ein ganz wichtiger Baustein.

Quelle Bild: © DSHS Köln / Presse und Kommunikation
Das Gespräch führte Viola Grötz für Münster aktiv