Laufteam Kassel-Topathlet Jens Nerkamp schreibt über sein Jahr, das anders läuft als geplant, seine Motivation, trotzdem weiter zu machen, und was er und andere Athleten vom Verband erwarten.
Die Olympischen Spiele in Tokio, die Fußball-EM in zwölf verschiedenen Ländern, die Tour de France oder die Leichtathletik-EM in Paris, u.v.m.. Der Sommer des Jahres 2020 sollte eine Fülle an sportlichen Highlights bieten, doch dann kam die unerwartete Wendung.
SARS-CoV-2 oder im Volksmund Covid-19 bzw. Corona breitet sich seit Dezember 2019 weltweit rasant aus. Lockdown, Homeoffice, Systemrelevanz, Maskenpflicht und Abstandsregeln sind bekannte Begriffe der Pandemie. Das öffentliche Leben ist seit März auf ein Minimum zurückgefahren, Kontakte sind minimiert und Großveranstaltungen in allen Bereichen sind bis auf weiteres abgesagt oder auf 2021 verschoben worden. Solidarität ist seither noch mehr gefordert, um Risikogruppen zu schützen. Aber nicht nur ältere und vorerkrankte Menschen können einen schweren Verlauf der Krankheit erleiden und im schlimmsten Fall daran sterben. Das Virus wütet im ganzen Körper und auch Menschen mit leichten Verläufen klagen über massive Nachwirkungen, wie zum Beispiel Kurzatmigkeit und Müdigkeit.
Ich bin Marathonläufer mit einer Bestzeit von 2:14:54 Std., aufgestellt beim Berlin-Marathon 2019. Der Großteil meines Lebens dreht sich seit nunmehr 16 Jahren ums Laufen. Mein Ziel für 2020 war es, die Norm für die EM im Halbmarathon in Paris und eventuell die Olympia-Norm für den Marathon in Tokio anzugreifen. Dafür bin ich im Januar und Ende Februar jeweils ins Trainingslager nach Albufeira gefahren. Dort konnte ich eine sehr gute Grundlage setzen. Nur eine Woche nach meiner Rückkehr im März war alles anders. Corona hat uns alle hart getroffen und das Leben, wie wir es kennen, massiv verändert. So auch meins. Meine Frühjahrsziele waren auf einen Schlag nicht mehr vorhanden, da der Halbmarathon in Berlin und der Hannover-Marathon abgesagt werden mussten. Dem ersten Frust über die neue Realität folgte schnell die Akzeptanz, dass es jetzt eben nicht mehr um die individuelle Entfaltung, sondern um den Schutz der Gesamtgesellschaft geht und das Gesundheit ein viel höheres Gut ist, als jeder Wettkampf. Besonders, wenn viele Menschen im persönlichen Umfeld zur Risikogruppe gehören. Anfangs habe ich mein Training weiterhin verfolgt, mich dann aber recht schnell dazu entschieden, meinem Körper etwas Ruhe zu gönnen, um dann mit voller Kraft in die Vorbereitung für den Herbst zu gehen.
Da war noch nicht so deutlich, dass Corona uns noch eine lange Zeit in Atem halten wird. Aber auch ohne die Corona-Krise deutete mein Körper darauf hin, dass eine Pause gar keine schlechte Idee sei, denn ich hatte seit dem Berlin-Marathon Schmerzen im Sprunggelenk. Nie so groß, dass es mich davon abgehalten hätte zu trainieren, aber zumindest immer präsent. Also habe ich die Chance genutzt, der Ursache auf den Grund zu gehen. Am 2. April 2020 kam dann die Diagnose: Stressfraktur im Kahnbein und weitere leichte und schwere Ödeme im Sprungbein und Fersenbein. Sechs Wochen durfte ich ab diesem Zeitpunkt den Fuß gar nicht belasten und musste eine Orthese und Gehhilfen in Anspruch nehmen. Besser hätte ich mir den Zeitpunkt meiner Verletzung gar nicht aussuchen können, da Corona alle (Lauf-)Veranstaltungen zur Absage zwang und bis heute unklar ist, ab wann eine größere Veranstaltung wieder möglich sein wird.
Glück im Unglück und ich konnte mir die nötige Zeit geben, den Bruch vollends ausheilen zu lassen, ohne den Druck der Wettkampfsaison im Nacken zu spüren. Natürlich habe ich durch die Verletzung und Corona negative Auswirkungen, denn wenn ich nicht laufen kann, kann ich keine Wettkämpfe bestreiten und damit auch keine Antritts- und Preisgelder einstreichen, diese verwende ich jedoch zum großen Teil dafür, den Sport zu refinanzieren.
Für die anderen Läufer ist die derzeitige Situation frustrierend und wenig zufriedenstellend. Menschen verfolgen zumeist irgendwelche persönlichen Ziele und entwickeln eine enorme Motivation aus eben diesen. Wenn jedoch auf einmal jedes Ziel in weite Ferne rückt und es keine Alternative gibt, ist es durchaus verständlich, dass der Wille sinkt, täglich an seine Grenzen und zum Teil darüber hinaus zu gehen. Das Leben eines Sportlers folgt häufig einem Entwicklungsplan, der mehrere Jahre einbezieht. Jemand, der sich für Olympia qualifizieren möchte, trifft diese Entscheidung meistens Jahre zuvor. Auch das Leben eines Sportlers verläuft nicht immer geradlinig, aber alles wird auf diesen einen Wettkampf abgestimmt und jede große Verletzung oder jede Unstimmigkeit beeinflusst den Erfolg oder Misserfolg der Planung. Corona sticht bei vielen genau in diese Wunde und das ist umso frustrierender, weil man diese Entwicklung nicht selbst in der Hand hat. Wenn man sich verletzt, liegt die Verantwortung dafür meist bei einem selbst, die Corona-Krise zwingt jedoch alle dazu, umzudenken und neu zu planen. Wettkämpfe sind jedoch wichtig für die persönliche sportliche Weiterentwicklung und um das absolvierte Training in Leistungen umzuwandeln, die einen physisch und mental auf ein neues Niveau bringen. Diese Leistungen sind in Trainingsläufen selten auf dem höchsten Niveau abrufbar, da ein Wettkampf und die Konkurrenzsituation die Leistungsfähigkeit positiv steigert. Genauso ist es wichtig, eine bestimmte Konstanz in seinem Training einzuhalten.
Die unsichere Situation, wann es wieder gewohnte Wettkämpfe geben wird, erschwert die Trainingssteuerung enorm. Mittlerweile gibt es wieder Bahnwettkämpfe und auch kleinere Straßenläufe für eingeladene Athleten haben bereits stattgefunden, aber Großveranstaltungen wie Marathons sind undenkbar für das Jahr 2020 und auch darüber hinaus ist die Entwicklung schwer einzuschätzen. Hier kommt es auf die transparente Arbeit von Regierungen, Verbänden und Veranstaltern an.
Der Deutsche Leichtathletik Verband zum Beispiel hat zunächst verkündet, dass es in diesem Jahr keine Mittel- und Langstrecken ab 1500 m bei den Deutschen Leichtathletikmeisterschaften geben werde, da diese nicht mit den Hygienevorschriften vereinbar wären. Kurz vor der Austragung hat sich die Situation etwas entspannt und die Meisterschaften konnten mit allen Disziplinen durchgeführt werden. Die vorangegangene Ausgrenzung der Läufer hat in der Szene für einigen Unmut gesorgt und auch Gesa Krause hat über ihre Social-Media-Kanäle ihren Ärger darüber öffentlich gemacht, da diese Entscheidung zunächst als alternativlos kommuniziert wurde. Im Hintergrund hat der DLV dann wahrscheinlich ein Konzept erarbeitet, unter welchen Umständen eine DM auch mit den Läufern stattfinden könne.
Diese Alternative wurde jedoch nicht öffentlich diskutiert. Ein weiteres Beispiel sind die Deutschen Straßenlaufmeisterschaften. Stand jetzt wird es im Jahr 2020 keine Meisterschaften über diese Strecken geben und es scheint als gäbe es hierfür auch keine Konzepte zumindest eine Meisterschaft z. B. im 10 km-Straßenlauf durchzuführen.
Dies erweckt zumindest in der Szene den Eindruck, dass der Verband dem Straßenlauf keinen großen Wert beimisst und das, obwohl die Disziplin Lauf den größten Anteil an Athleten mit einem DLV-Startpass stellt und ich würde behaupten, dass die Teilnehmerfelder im Straßenlauf um ein Vielfaches größer sind als bei den meisten Bahnwettbewerben. Ich verstehe einen Verband jedoch als Interessensvertreter seiner Anhänger und es besteht ein klares Interesse an einer transparenten Erarbeitung von Lösungsvorschlägen und Alternativen dafür, wie man Corona-konforme Wettbewerbe stattfinden lassen kann. Dabei geht es den meisten Athleten nur um klare Aussagen und zeitnahe Informationen in Bezug zur derzeitigen Entwicklung der Pandemie. Eine generelle Absage aller Veranstaltungen, ohne den Versuch eine alternative Möglichkeit zu erarbeiten, gleicht einem Im-Stich-lassen der gesamten Disziplin. Klappt es am Ende nicht, die Alternative durchzubringen, weil die Entwicklung der Krise es nicht zulässt, dann hat es jedoch eine Signalwirkung, dass die Athleten eben nicht im Regen stehen gelassen werden, sondern mögliche Alternativen gesucht wurden. Der DLV besteht eben nicht nur aus dem Nationalkader, es gibt viel mehr ambitionierte Athleten, die sich mit Herzblut diesem Sport verschrieben haben und sich selbst fördern und dennoch von der Arbeit des DLV in gewisser Weise abhängig sind. Für viele, die nie Mitglied des Nationalkaders sein werden, ist eine Teilnahme an Europameisterschaften oder Weltmeisterschaften oder der Titel des Deutschen Meisters die größte Motivation. So geht es mir jedenfalls. Dafür ist es wichtig, dass der DLV Wettkampfperspektiven schafft und seine Entscheidungen transparent und zeitnah, am besten noch im Arbeitsprozess öffentlich kommuniziert.
Die Corona-Krise wird die Wettkampflandschaft entscheidend verändern. Viele Veranstaltungen kommen an ihre finanziellen Grenzen und einige werden wahrscheinlich verschwinden. Die Veranstalter versuchen alles, um alternative Lösungen zu schaffen. Fast alle Läufe, die nicht stattfinden können, bieten eine virtuelle Version des jeweiligen Laufes an, wie auch der EAM Kassel Marathon. Das hat natürlich nicht den Charakter eines realen Events, wo alle zusammen an einer Startlinie stehen und sich gegenseitig zu Höchstleistungen antreiben. Der Hamburg-Marathon hat bis zuletzt versucht, ein Hygienekonzept zu schaffen, um den Marathon am 13. September stattfinden zu lassen. Am Ende scheiterte dieser Vorstoß daran, dass die möglichen Zuschauer an der Strecke nicht entsprechend der Abstandsregeln gesteuert werden könnten. Vielen Athleten würde es jedoch sicherlich helfen, wenn Veranstalter alternative Konzepte für kleinere Veranstaltungen ausarbeiten, um Wettkampfmöglichkeiten zu schaffen. Der SCC Berlin und andere haben inzwischen gezeigt, dass es möglich ist. Natürlich wären entsprechende Startfelder wünschenswert. Für mich wäre das auch die Möglichkeit, nach meiner Verletzung an einem Ziel festzuhalten, für das ich jeden Tag arbeiten kann.
Man kann die Corona-Krise aber auch als Chance verstehen. Wann hat man mal die Möglichkeit der Entschleunigung? So wichtig Wettkämpfe und konstantes Training auch sind, wir jagen in normalen Jahren häufig einem Wettkampf nach dem anderen hinterher oder trainieren viel zu obsessiv. Zurzeit kann man sich etwas mehr Zeit nehmen und etwas ausprobieren, mehr Wert auf die Regeneration legen oder an seinen Schwächen arbeiten. Das kann dazu führen, dass wir uns selbst überraschen und neue Bestleistungen erreichen. Für mich ist diese Entschleunigung Gold wert, denn der Wiederaufbau meiner Ausdauer und generellen physischen Topform nimmt eine Menge Zeit in Anspruch. Darüber hinaus habe ich die Zeit genutzt, mich mehr auf mein privates Leben neben dem Sport zu konzentrieren. Auch im Corona-Jahr 2020 sind viele Highlights möglich. Das Leben läuft an uns vorbei und es liegt an uns, was wir daraus machen.
Zur Person:
Jens Nerkamp, 31 Jahre,
Laufteam Kassel
Bestzeiten:
Marathon: 2:14:54
HM: 1:04:06
10 km: 29:20
10.000 m: 29:16
5.000 m: 14:07
Größter Erfolg: Bester Deutscher Berlin-Marathon 2019
Artikel außerdem zu finden:“run virtual – Das digitale Laufmagazin zum Virtual worldwide EAM Kassel Marathon“ auf www.kassel-marathon-weltweit.de